Historie der M 72 und ihrer Nachfolger.

Mit der BMW R71 fand die Entwicklung seitengesteuerter Tourenmaschinen ihren Höhepunkt und zugleich Abschluss. Die Geschichte der R 71 setzte sich aber in Russland fort.

Eine Veröffentlichung der Motorrad-Classic Heft 2/2000 

VON J.PEVSNER UND R. RODENKIRCHEN;
FOTOS: PEVSNER, RODENKIRCHENI M. MOESCH

 

UR-version

Urversion der M 72-nachgemachte
BMW und echter Veteran in IRBIT.

   Im Jahre 1940, als sich das Deutsche Reich im Krieg mit Frankreich und England befand, wollte die Rote Armee nach Beendigung des militärischen Konflikts mit Finnland ihre Ausrüstung modernisieren. Die bisher eingesetzten Motorräder hatten sich nicht bewährt, ihre Technik war veraltet, die Fertigungsqualität liess viel zu wünschen übrig. Die offizielle Version lautet, dass über das neutrale Schweden eine BMWR 71 angekauft und kopiert wurde. Sehr viel wahrscheinlicher ist jedoch die Belieferung der zuständigen Dienststellen mit Konstruktionszeichnungen und Gussmodellen direkt von BMW aus. Denn im Rahmen des Hitler-Stalin-Pakts hatte auf verschiedenen Gebieten ein Technologietransfer zur Unterstützung der russischen "Freunde" stattgefunden. Es wurden russische Ingenieure durch deutsche Flugzeugfabriken geführt, ja selbst komplette Kanonen als Muster übergeben. Der Kadett von Opel wurde zum Beispiel zur Verfügung gestellt, es entstand ein Nachbau-Prototyp, der aber erst nach Kriegsende als Moskwitsch 400 in Serie ging.

 

M72

Technische Daten
Bei BMW begann 1941 die Serienproduktion der R 75, die R 71 wurde nicht weitergeführt.

Änderungen an ihr, grösserer Tank (22 l statt 14) und Griffbügel an den Schutzblechen, sollten sie den Anforderungen der Wehrmacht entsprechen, letztendlich wurde die R 71 aber in Deutschland  nicht als Armee - Motorrad eingesetzt.

Fast alle Komponenten der R 71 bedeuteten Neuland für die sowjetische Industrie. Der Zweizylinder - Boxermotor, der geschweisste Rohrrahmen die Geradeweg - Hinterradfederung und Kardanantrieb wurden bisher an den einheimischen Motorrädern nicht verwendet. 
Die Fertigung vieler Teile erforderten neue Technologien und Maschinen, die erst mühsam hergestellt werden mussten, Die Werke, die für die Produktion des neuen Motorrades bestimmt worden waren, konnten nicht alle Teile selbst herstellen.

So wurden auch Fertigungsaufträge
für bestimmte Baugruppen auf andere Fabriken verteilt. Aluminium-Gussteile, Getriebeteile und die Telegabel kamen beispielsweise vom ZIS-Automobilwerk in Moskau und den verschiedenen Automobilwerken in Gorkij- heute Nishnij-Nowgorod.

Motor:  Zweizylinder-Boxer,seitengesteuert Bohrung/Hub: 78/78 mm
Leistung: 22 PS bei 4500 bis 4900/min
Umlaufschmierung, Batteriezündung.
Lichtmaschine G -11 A, Batterie SMT-7
Regler PP-31, Vergaser Typ K-37
Zweistufiger Luftfilter, Tankinhalt 22 Liter Antrieb/Getriebe:                      Zweischeiben -Trockenkupplung
Gesamtübersetzung Kurbelwelle/Hinterrad im
1. Gang: 16,65 - 2. Gang: 10,55 -       3. Gang: 7,85   4. Gang 6,01.     Kardanantrieb Fahrwerk:                                   Geschweisster Doppelrohr-Rahmen
Teleskopgabel, Geradweg-Hinterradfederung,
Reifen vorne + hinten  3.75-19

Masse und Gewichte:  Radstand 1400 mm.
Bodenfreiheit 135 mm,
Länge 2155 mm (mit SW 2420 mm
Breite 825 mm (mit SW 1600 mm), Hohe 980 mm,
Sattelhöhe 720 mm. 
Leergewicht fahrbereit 205 kg (mit SW 335 kg 
Leergewicht trocken 219 kg (mit SW 358 kg)
Verbrauch: sechs bis sieben Liter auf 100km/h

Richtgeschwindigkeit: 50 bis 60 km/h,
Höchstgeschwindigkeit 105 km/h,
mit SW 90 bis 95 km/h


 
 
Eine Motorradfabrik wurde im Süden der UdSSR in Charkow eingerichtet, als zweite Produktionsstätte wurde die Moskauer Fahrradfabrik herangezogen. Schliesslich sollte auch im Leningrader Werk "Der rote Oktober" statt der L-300 (eine Kopie der DKW Luxus 300) die neue  M 72 montiert werden. lm Herbst 194l befand sich die Sowjetunion im Krieg mit Deutschland. Als die Kampflinie den Industriezentren näherrückte, wurde die Evakuierung zahlreicher Fabriken in weiter östlich gelegene Gebiete beschlossen. Die Leningrader Produktionsanlagen, auf denen bisher noch keine M 72-Fertigung zustande gekommen war, wurden nach Gorkij in die Nähe des grossen GAZ-Automobilwerks verlegt. Kaum waren die Werkzeugmaschinen dort aufgestellt, kam der Befehl zur erneuten Verlagerung des Werks. Am neuen Standort sollten dann leichte Panzerkampfwagen gebaut werden. Aber auch dazu sollte es nicht kommen, denn nun hiess es plötzlich wieder unmittelbar vor Produktions- beginn: zurück nach Gorkij. Das alles spielte sich innerhalb nur weniger Wochen des Winters 1941 ab. Den Maschinen aus  Leningrad wurde dann noch die Einrichtung der Motorradfabrikation aus Charkow hinzugefügt, dort waren immerhin bereits 233 Exemplare der M 72 montiert worden. Bis zum Jahresende 1941 kamen aus Gorkij weitere 442 dazu.

 
 
Das M in der Typenbezeichnung steht  übrigens schlicht für "Motocikl" und nicht für " Molotov ", wie oft behauptet wird.

 
Die Moskauer Fabrik brachte es auf 1753 Motorräder, bevor auch sie evakuiert wurde. Die Fertigungsanlagen wurden nun in das sibirische Städtchen IRBIT, hinter dem Ural-Gebirge, mehr als 1200 km östlich von Moskau gelegen, umgesiedelt. 1n den Hallen einer ehemaligen Brauerei fanden nicht alle Werkzeugmaschinen Platz, weshalb einige zunächst im Freien in Betrieb genommen werden mussten, bevor rund  herum entsprechende Gebäude hochgezogen wurden. Den Strom lieferte ein grosser Generator, den eine Dampflokomotive antrieb, der findige Menschen einfach die Räder abgenommen hatten.

 
 
Die ersten Motorräder schickte die Fabrik IMZ  Irbitskij Moto-Zawod Ende Februar 1942 dann an die Front. Die beiden Werke in Irbit und Gorkij bekamen nach wie vor viele Bauteile aus anderen Fabriken zugeliefert, was bei der End- montage stets zu Schwierigkeiten führte und ein sehr unterschiedliches Quali- tätsniveau ergab. Im Sommer 1942 konnte kein einziges fahrbereites Motorrad ausgeliefert werden, da einfach keine brauchbaren Teile mehr in den Werken eintrafen. In den Jahren 1942/43 entstanden in Irbit insgesamt 3780 Motorräder und in Gorkij 2694 des Typs M 72. Zweitversion

Schon die zweite: Die Urversion
kam 1942/1943, hier im Bild die
Ausführung der Jahre 1944/1945

Ganz am Anfang der Produktion unterschied sich die M 72 ausser in Tankinhalt und Haltebügel in keinem einzigen Detail von ihrem Vorbild BMW R 71. Nicht, dass die Ingenieure keine Verbesserungsvorschläge gehabt hätten, es war schlicht und einfach verboten worden. Bis Ende 1943 lagen jedoch genügend Erfahrungen vor allem  aus dem harten Fronteinsatz vor. Die Schwachstellen in Konstruktion und in der Fertigungstechnik konnten schrittweise behoben werden. Eine Zweischeiben-Kupplung, mit Ferodo - statt Textil-Belägen ersetzte 1944 die bisherige  Einscheiben - Ausführung. Der Ausrückhebel der Kupplung wurde nach oben verlegt, aus dem Schalthebel wurde eine Schaltwippe und die Uebersetzung am Hinterradantrieb wurde von 3,86 auf 4,62 umgestellt. Einer verringerten Höchstgeschwindigkeit standen besserer Durchzug und damit erhöhte Geländetauglichkeit entgegen.

 

M 72 mal ohne Seitenwagen; so wurde sie zwischen den Jahren 1946 und 1956 hergestellt.

Kleine technische Fortschritte fanden im Inneren statt, das Grundkonzept wurde aber nie geändert

Das Rahmenheck wurde mit eingeschweissten Blech-Dreiecken verstärkt. Die Radaufhängung am Seitenwagen erhielt eine zweite Rohrabstützung, weitere Kleinigkeiten folgten. Mit diesen Änderungen wurden von Anfang l944 bis Kriegsende 3993 M 72 in Irbit und 2882 in Gorkij hergestellt.

Ab 1944 entstanden auch erste Neukonstruktionen. Es wurden mehrere Seitenwagen-Typen entwickelt, die speziell für den Transport schwerer Waffen und Ausrüstungen vorgesehen waren. Versuchsweise wurden Holz und Sperrholz eingesetzt, um Seitenwagen in Flugzeugbautechnologie zu bauen und wertvolles Material zu sparen. Diese Versionen erwiesen sich als nicht stabil genug, was zur Einstellung der Experimente führte. Alle Seitenwagen baute bis 1946 aussschliesslich die Automobilfabrik GAZ in Gorkij.

Für die M 72 wurde auch ein Antrieb für das Beiwagenrad entwickelt. Die Modellbezeichnung für dieses Gespann lautete M 73. Es gab kein Differential, der Antrieb sollte nur bei schwierigen Wegverhältnissen zugeschaltet werden. Das Seitenwagenrad bekam mit der Antriebsnabe auch eine Bremse, die über Seilzug vom Fusshebel zusammen mit der Hinterradbremse betätigt wurde. Die Erprobung bei der Armee ergab, dass durch den zusätzlichen Antrieb die Geländegängigkeit zwar deutlich verbessert wurde, mit dem fehlenden Ausgleichsgetriebe jedoch Kurven mit kleinem Radius nicht fahrbar waren. Dazu musste der Seitenwagenantrieb ausgeschaltet werden. Auch bei weiten Kurven war das Gespann schwer zu fahren, da die Lenkung kaum reagierte.
Der differentialfreie Antrieb war zwar einfach konstruiert, trotzdem waren Wartung und Reparatur unter feldmässigen Bedingungen problematisch. Die Bewertung fiel dennoch insgesamt positiv aus, aber das Kriegsende war bereits abzusehen und es standen mit den Jeeps nun auch genügend leichte und geländegängige Fahrzeuge zur Verfügung. Das Projekt M 73 wurde deshalb zu den Akten gelegt.

Eine eher kuriose Entwicklung, war ein Maschinengewehr-Transporter, der zur Unterstützung der Infanterie im Winter gedacht war. Er bestand aus einem kleinen Schlitten, auf den vorn das MG  mit einem Panzerschild montiert war. Der Fahrer und Schütze lag  dahinter. Hinter ihm befand sich ein  M 72 Motor, der über eine Übersetzung  eine Luftschraube antrieb. Eine Handvoll dieser Vehikel soll auch tatsächlich zum Einsatz  gekommen sein. Nach Kriegsende wurde die Produktion der M 72 weitergeführt, die Qualität konnte verbessert werden, da nun wieder besseres Material zur Verfügung stand. Die Fertigung wurde von Gorkij nach Kiew verlegt, wo ab 1951 die ersten M 72 entstanden.


 
 
Privatpersonen, denen bisher nur die leichten Zweitaktmodelle oder Beutemaschinen zugänglich waren, durften 1954 erstmals M 72 - Gespanne kaufen. 

Damit musste nun auch die Farbpalette ausgeweitet werden, beschränkte sich diese doch bislang auf olivgrün (Armee),dunkelblau (Polizei) und schwarz (Behörden allgemein).


Erster Prototyp:Für die Zivilversion 1946 wurden Sitze, Kotflügel, Emblem und die Felgenausführung geändert
Ohne wesentliche Änderungen wurde die M 72 bis 1956 produziert. Die Ablösung erfolgte durch Nachfolgebaumuster, während für das ursprüngliche Modell eine Produktionslizenz an die Volksrepublik China verkauft wurde, wo das Motorrad bis heute hergestellt wird. 

 
Original M 72 M;  in dieser Form verliess die 
BMW des Ostens 1960 ihre Produktionstätte
In Irbit bekam das Seitenwagenrad eine Torsionsstabfederung, die Nockenwelle ein Kugellager statt der Bronzebuchse im Vorderteil des Gehäuses. Neue Stahlblech - Halbnaben gestatteten die Verwendung von ungekröpften Speichen. Am Grundkonzept wurde nichts geändert, die neue Version hiess nun M 72 M.

Ein neues Modell mit ohv - Motor befand sich bereits in Vorbereitung und wird in weiterentwickelter Form bis heute in Irbit gebaut. Mit der letzten M 72 M von 1961 endete jedoch in Sibirien die Geschichte der M 72.

Unrestauriert: wer eine Vorlage für den Aufbau einer M 72 M braucht, liegt mit diesen Bildern richtig.



In Kiew wurde 1956 das Modell M 72 N in Produktion genommen, dessen Vorderteil mit einer geschobenen Kurzschwinge versehen worden war. Die Räder bekamen Aluminium-Vollnaben. Nach nur drei ]ahren erfolgte mit der K 750 eine deutlichere Ablösung vom M 72 - Konzept. Der Rahmen bekam eine Hinterradschwinge mit hydraulisch gedämpften Federbeinen. Die Bodenfreiheit erhöhte sich bei unbelastetem  Motorrad damit von l35 auf 155 Millimeter. Die Vorderradschwinge wurde ebenso wie die Leichtmetallnaben beibehalten, die Bremsen erhielten einen automatischen Nachsteller (Verschleisskompensator). Das Seitenwagenrad wurde ebenfalls in einer Schwinge mit Öldruck - Federbein geführt. Auch am Motor wurden wichtige Änderungen vorgenommen, die Kolben  hatten nun zwei Ölabstreifringe statt einem, die Zylinderköpfe bekamen eine etwas andere Form mit vergrösserter Oberfläche der Kühlrippen. Das Verdichtungsverhältnis wurde erhöht, wodurch die Motorleistung  von 22 auf 27PS anstieg. Zusätzliche Kühlrippen an der Ölwanne verbesserten den Temperaturhaushalt.

 
 
Die letzten Modernisierungen wurden in Kiew 1963 vorgenommen, eine automatische Fliehkraftzündverstellung und ein verbessertes Getriebe machten zusammen mit der Rückkehr zur Telegabel aus der K 750 die K 750 M
In dieser Version wurde die seitengesteuerte 750-er bis 1977 gebaut, nun parallel zu den auch in Kiew eingeführten 650cm 3 ohv - Modellen.  Der Grund für die lange Bauzeit war die sehr einfache Technik, die das Gespann bei der Armee beliebt machte.
Die Maschinen kamen nicht nur in Aufklärungsgruppen, sondern auch im Nachrichtendienst und bei der Militär- polizei zum Einsatz.

Überarbeitet: Die K 750 von 1960 war eine deutliche Ablösung vom M72-Konzept,gebaut wurde sie in Kiew.


 
Ab 1964 bekam die Rote Armee auch wieder ein Gespann mit Seiten- wagenantrieb. Die MB-750 aus Kiew ähnelte den M 3-Versuchsmodellen. 
Das Hinterradgetriebe bekam ein Vorgelege für unterschiedliche Gelände- und Strassenübersetzungen, aber ein Differential gab es auch jetzt nicht. Die Antriebswelle befand sich im Gegensatz zur BMW R75 und Zündapp nicht im Querrohr des Seitenwagenrahmens, sondern  verlief zwischen Rahmen und Seitenwagenboot.
Ab 1973 hiess das Modell MB-750 M, unterschied  sich aber nur in Kleinigkeiten von seinem Vorgänger.
Ein neues Modell für Privatkunden entstand 1977 unter der Bezeichnung Dnepr-12, ebenfalls mit Seitenwagen- antrieb.Der alte sv Motor wurde dazu in das modernere Fahrgestell der ohv-Modelle zusammen mit deren Getriebe eingebaut.

  Die Dnepr-12 hatte nicht nur einen Rückwärtsgang, sondern darüber hinaus auch einen Mechanismus zur automatischen Trennung der Kupplung beim Gangwechsel. In dieser Ausführung wurde die letzte seitengesteuerte Dnepr bis 1982 gebaut, als das Werk in Kiew sich 20 ]Jahre nach den Kollegen in Irbit ganz auf die ohv - 650 er konzentrierte. Die BMW R 71 brachte es in vier Jahren zwischen 1938 und 1941 auf 3458 Exemplare, die  M 72 und ihre Abkömmlinge in der UdSSR in 41 Jahren auf rund eine Million und in China ist die Geschichte der M 72 ja noch gar nicht zu Ende.
 

 

Hier quält ein Spezialist eine Dnepr MT 12 des letzten Baujahrs durchs Gelände